Autor: Markus Friedrichs
Navigation im Nebel: Wie Sie sich auf die Zukunft vorbereiten können, während die ganze Welt auf Sicht fährt
Die Nordsee, irgendwo zwischen Schottland und Dänemark. In einem der ersten gewaltigen Herbststürme kämpft sich ein Tanker nachts durch die aufgewühlte See. Die Wellen brechen über den Bug wie kollabierende Wände aus Wasser. Das Schiff scheint trotz seiner imposanten Größe durch den Seegang zu tanzen. Auf der Brücke herrscht beeindruckende Routine. Kapitän und Crew sind ein eingespieltes Team, wenige ruhige Wortwechsel signalisieren Kontrolle und Beherrschbarkeit der Situation. Eine Vielzahl von digitalen Informations- und Navigationssystemen steuern das Schiff sicher durch den Sturm. Die Wetterlage wird in Echtzeit auf den eigenen Bildschirmen aktualisiert, exakte Vorhersagen ermöglichen eine ständige Anpassung des Kurses.
Dann, plötzlich, eine Explosion an Bord. Völlig unerwartet schalten sich mit einem Stromausfall auch die wichtigsten Systeme ab. Das Schiff treibt für Minuten ohne Steuerung durch die schwere See. Nach kurzer Zeit gelingt es der Crew, Maschinen und Steuerung über ein Notsystem zu starten. Die wichtigen Navigationssysteme aber versagen. Scheinbar blind treibt das Schiff durch Sturm und Dunkelheit. Was ist zu tun?
Ereignisse wie diese gehören leider auch heute noch zum größten Risiko der Schifffahrt. Zwar werden Steuerungs- und Navigationssysteme immer sicherer und redundanter. Gleichzeitig steigt aber die Anfälligkeit neuer Supertanker und Kreuzfahrtschiffe, die bei einem Ausfall der Systeme schnell zu blinden Riesen werden.
Ein Phänomen, das nicht nur bei spektakulären Schiffshavarien zu beobachten ist. Unsere Welt ist mit Digitalisierung und Informationssystemen zu einem scheinbar beherrschbaren und vorhersehbaren Ort geworden. Vernetzung und ständiger Datenaustausch vermitteln uns das Gefühl der Kontrolle. Zu jeder Sekunde werden weltweit sieben Terabit Daten verarbeitet, das entspricht circa 230 Millionen beschriebenen DIN-A-4-Seiten, ein Stapel von knapp 25 Kilometern Höhe. Doch trotz aller Möglichkeiten für sichere Planung, Vorhersage und Steuerung, die sich daraus ergeben, trotz einer zweifellos steigenden Stabilität unseres Lebens seit vielen Jahrzehnten findet sich gerade die (neue) digitale Welt überraschend häufig in Situationen wieder, in der ebenso plötzlich wie auf dem oben beschriebenen Schiff alle Systeme versagen. Die Folge: Wir müssen uns auf unseren großen sicheren Supertankern ziellos durch den Sturm bewegen.
Finanz- und Terrorkrisen waren Vorboten einer neuen Dimension der Verunsicherung für eine Welt, in der alles sicher und planbar erscheint. Aber es waren schwache Glaubenskrisen im Vergleich zu der fundamentalen Erschütterung der datengetriebenen Sicherheitstheoreme durch die derzeitige Corona-Pandemie. Dabei war diese Pandemie alles andere als ein „schwarzer Schwan“, eine Bezeichnung von Risikoanalysten für ein Ereignis, das extrem unwahrscheinlich ist, weil es sich so noch nie ereignet hat. Epidemische und pandemische Ausbrüche von Krankheiten begleiten die Menschen seit Jahrtausenden. Und selbst das Szenario der weltweiten Verbreitung eines gefährlichen Coronavirus wird bereits seit Jahren untersucht, zuletzt im Herbst 2019 durch die Melinda und Bill Gates-Stiftung, mit erschreckend hoher Übereinstimmung zu den jetzigen Ereignissen.
Also: Hier ist kein schwarzer Schwan plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Und trotzdem erscheint uns die momentane Krise wie ein Erdbeben, das plötzlich den Boden unter uns zum Beben bringt. Verdutzt reiben wir uns die Augen und fragen, warum uns kein digitales Frühwarnsystem rechtzeitig gewarnt hat. Vor allem aber stehen wir ratlos und ohne verlässliche Vorhersage dazu, wie dies alles ausgehen wird, vor der Aufgabe, in die Zukunft zu steuern.
Wege zur Lösung der Zukunftsbewältigung führen erst einmal über die Erkenntnis, dass Ereignisse wie die derzeitige Pandemie sich nicht trotz der neuen Möglichkeiten der dauerhaften Vernetzung unserer Welt ereignen, sondern sie werden durch genau diese Vernetzung erst ermöglicht. Digitalisierung und Globalisierung gingen in den vergangenen Jahrzehnten Hand in Hand, und sie haben unsere Welt tiefgreifend verändert. Unsere ständig vernetzte Welt hat uns anfälliger gemacht für alles, was sich darin schnell verbreiten kann – Verschwörungstheorien, Fakenews, Viren. Vor allem aber ist unsere Welt: komplexer geworden. Zu komplex, als dass uns die alten Navigationssysteme noch sicher durch den Sturm führen können. In eine Welt des „Machine Learnings“, der „Predictive Analytics“ bricht ein Ereignis herein, das deutlich macht: All die Daten der Vergangenheit schaffen uns keine Sicherheit in der Frage, wie es morgen aussehen wird. Ebensowenig wie Jahrhundert-Daten von Wetteraufzeichnungen uns helfen werden, in einem Klimawandel das Wetter der nächsten Tage vorherzusagen, werden unsere Datenanalysen uns helfen, die unüberschaubare systemische Dynamik dieser Krise vorherzusagen. Die Wechselwirkungen sind zu zahlreich und respondierend, als dass auch das größte Cluster an Rechnern es simulieren könnte. Epidemiologen können aufgrund vergangener Pandemien Berechnungen anstellen – es bleiben simplifizierte Modelle, die sich nur berechnen lassen, weil man verzerrende Einflüsse herausrechnet. Aber in komplexen Systemen sind es genau diese Störfaktoren, die den Lauf der Dinge maßgeblich beeinflussen können. Und je größer die Komplexität, desto größer die Unberechenbarkeit.
Was also bleibt uns, wenn unser Navigationscomputer ausfällt? Wenn wir begreifen müssen, dass unser Schiff besonders anfällig ist, weil es sich ohne sichere Vorhersage gar nicht mehr steuern lässt?
Es sind Dinge wie Vorstellungsvermögen, Kreativität, Fantasie, die plötzlich wieder wichtiger werden. Wenn wir nicht exakt vorhersagen können, wie die Welt in einem Monat, einem Jahr aussehen wird, benötigen wir Methoden, um Möglichkeiten der Zukunft zu entwerfen. Modelle, die sich nicht an berechneter Wahrscheinlichkeit orientieren, sondern an der Frage, was möglich und plausibel ist. Es ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, sich in die Zukunft zu denken. Vieles von dieser Fähigkeit haben wir in den vergangenen Jahren an die digitalen Instanzen übergeben, in der Annahme, diese könnten uns ein verlässlicheres Bild der Zukunft berechnen. Doch es zeigt sich, dass wir uns mit diesem Schritt eines großen Teils der Fähigkeit beraubt haben, eine extrem unsichere Zukunft zu bewältigen.
Denn auch das vermeintlich abwegige Denken in sehr unterschiedlichen Zukunftsszenarien hilft, uns bestmöglich auf eine große Bandbreite von Entwicklungen vorzubereiten. In vielen Urvölkern waren es die Schamanen, „Sehende“, die für ihre Gemeinschaft diese visionäre Kraft entwickelten – nicht selten unter Einfluss berauschender Drogen. „Ein Schamane ist jemand, der das Unsichtbare sieht, das Unhörbare hört, das Unfassbare begreift“, schreibt die Ethnologin und Schamanismus-Forscherin Hiah Park. Die Entfesselung des kreativen Vorstellungsvermögens, das Überschreiten von gewohnten Denkmustern war eine kulturelle Technik, die oft das Überleben gesichert hat. Viele Künstler haben genau hier ihren größten gesellschaftlichen Beitrag geleistet, indem sie – warnend oder inspirierend – ihre Version einer Welt von morgen skizziert haben.
Eine Rückbesinnung auf diese Möglichkeit zur Zukunftsbewältigung und Strategiefindung fand bereits in den 1940er Jahren statt. Damals entwickelte Herman Kahn, ein junger Analyst des US Militär-Thinktanks Rand Corporation, eine Technik zur Beschreibung von atomaren Bedrohungsszenarien mit Hilfe von kurzen Geschichten. Kahn wurde zu einem versierten Entwickler von Möglichkeiten der Zukunft – und der Scientific American beschrieb Kahns Talent als „das Undenkbare zu denken“. Kahn arbeitete zusammen mit Künstlern wie Stanley Kubrick, und der Drehbuchautor Leo Rosten schlug ihm vor, seine neue Technik „Scenarios” zu nennen.
Im Kontext einer weiteren – ebenfalls neuartigen und unvorhersehbaren – Krise entwickelte sich die Arbeit mit Szenarien schließlich zum Standardrepertoire auch des unternehmerischen Handelns: der Ölkrise von 1973. Zum ersten Mal wurde der westlichen Welt die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und den Erdöl exportierenden Ländern schmerzhaft deutlich. Als Sanktion vieler arabischer OPEC-Länder gegen die Politik Israels führte die Ölpreiserhöhung auch in Deutschland zu dramatischen Folgen, die Wirtschaft brach ein, die Arbeitslosigkeit stieg an.
Um sich besser auf derartige globale Krisen vorzubereiten, entschied sich der Shell-Konzern, einen Thinktank zu gründen, in dem Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen Szenarien der Zukunft entwickeln. Shell-Stratege Pierre Wack und seine Kollegen entwickelten schon früh in Szenarien die Möglichkeit einer Machtverschiebung im arabischen Raum und konnten so den Konzern frühzeitig auf die Krise vorbereiten – übrigens entgegen den Einschätzungen und Vorhersagen vieler Industrieexperten.
Wie also kann uns die Szenario-Technik auch in der heutigen Krise helfen?
Zuerst einmal mit der Erkenntnis, dass es nicht um die Entwicklung einer einzigen und „richtigen“ Vorhersage der Zukunft geht. Szenarien sind entwickelt worden für eine Situation, in der es aufgrund von zu großer Komplexität und entsprechend hoher Unsicherheit keine Möglichkeit zur Vorhersage gibt. Die Arbeit mit Szenarien vermeidet daher bewusst, die Wahrscheinlichkeit der unterschiedlichen Szenarien zu berechnen, da dies sofort zu falschen Annahmen führen würde. Wahrscheinlichkeit wird oft abgeleitet aus den Beobachtungen der Vergangenheit – aber dies kann irreführend sein in Zeiten von bisher unbekannten Veränderungen. Stattdessen geht es in Szenarien um Plausibilität in Abgrenzung zu „Science Fiction“, also Möglichkeiten, für deren Erreichung noch Dinge passieren müssen, die zumindest aus heutiger Perspektive rein spekulativ sind. So haben z.B. aktuell manche Virologen die Entwicklung von Impfstoffen als „Science Fiction“ bezeichnet, da bis jetzt völlig offen ist, ob diese überhaupt gefunden werden.
Zweitens dienen unterschiedliche Szenarien immer dem Zweck, in der Formulierung von sehr gegensätzlichen Entwicklungen die volle Bandbreite von Möglichkeiten auszuloten. Sie sollen damit Entscheidern helfen, sich abseits der eigenen Meinung und des vielleicht zu pessimistischen oder optimistischen Denkens überprüfen zu können, inwieweit die eigene Organisation auf diese unterschiedlichen Versionen der Zukunft vorbereitet ist . Dabei vermeidet die Methode absichtlich, Szenarien als „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten, also „worst“ oder „best case scenarios“. Vielmehr geht es darum, Entwicklungen gleichwertig zu betrachten und anzuerkennen, dass es um plausible Möglichkeiten der Zukunft geht – und dass es aufgrund von systemischer Komplexität und Wechselwirkung von Faktoren oft schwer zu bewerten ist, welches Szenario am Ende „gut“ oder „schlecht“ ist.
Ihre größte Stärke entwickelt die Arbeit mit Szenarien in der visionären Kreativität der Ausgestaltung. Szenarien sind Bilder der Zukunft, die ein Reframing unserer heutigen Position ermöglichen und damit eine klare Handlungsanweisung zur Vorbereitung und Bewältigung formulieren lassen. Als Pierre Wack in den 1970er Jahren das Szenario eines neuen starken Iran formulierte, schien dies für viele Experten zu abseitig. Aber die plastische und stimmige Ausgestaltung dieser Entwicklung machte deutlich, dass damit zu rechnen war – und wie sich das Unternehmen auf die Situation vorbereiten könnte.
Für unsere heutige Zeit bedeutet es, sich zu fragen, welche Entwicklungen sind plausibel, wenn sie auch abwegig erscheinen? Wie sind wir darauf vorbereitet? Wie können wir bei sehr entgegengesetzten Entwicklungen Pläne entwickeln, die auch für unterschiedliche Szenarien flexible Lösungen darstellen?
Mit diesem Denken durchdringen wir Nebel und Dunkelheit des Unvorhersehbaren. Wir nutzen die visionäre Kraft der menschlichen Vorstellungsgabe, um Schritte in die unsichere Zukunft vorzudenken – auch wenn sie uns abwegig erscheinen. Damit sind wir allen Maschinen überlegen. Denn diese können nur berechnen, was sich eigentlich nicht berechnen lässt. Der Mensch aber kann versuchen zu denken, was sich bisher nicht denken ließ. Und Lösungen für Probleme finden, die wir bisher nicht lösen mussten.
Weitere Infos zur Arbeit mit Szenarien:
https://www.sbs.ox.ac.uk/programmes/oxford-scenarios-programme